Dr. Michael Woll: Zackern an der Tradition. Celans Hölderlinlektüren

Am 21. März 2023 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

Hölderlin begleitet Paul Celan bis zu seinem letzten Band Lichtzwang, aus dem er 1970 zu
Hölderlins 200. Geburtstag liest. Wenige Wochen später nimmt er sich in Paris das Leben, auf dem
Schreibtisch findet man eine aufgeschlagene Hölderlin-Biographie.
Die Nähe zwischen beiden ist alles andere als selbstverständlich. Celan, dessen Eltern von den
Nationalsozialisten ermordet wurden, muss seinen Hölderlin gegen eine Rezeption gewinnen, zu der
die Gründung der Hölderlin-Gesellschaft 1943 unter Schirmherrschaft von Joseph Goebbels gehört.
Erst in Auseinandersetzung mit dieser Vereinnahmung kann er die Freiheit gewinnen, poetisch
Stellung zu Hölderlin zu beziehen. Wo ein Zeitgenosse spottete, »Hölderlin, wie immer halb
verrückt, zackert auch am Pindar«, wendet Celan das ›zum Acker gehen‹ als Gemeinsamkeit der
Dichter ins Positive: »und zackere an / der Königszäsur / wie Jener / am Pindar«. Die Lektüre von
Gedichten wie Andenken und Ich trink Wein zeigt Celans Umgang mit Hölderlin als Teil dieser
mühevollen Spracharbeit.


Dr. Michael Woll, geb. 1985, Studium der Germanistik und Mathematik, z.Zt. Feodor-Lynen-Stipendiat der
Alexander von Humboldt-Stiftung an der École Normale Supérieure, Paris. Zuletzt erschienen:
Hofmannsthals »Der Schwierige« und seine Interpreten (2019).

Die Veranstaltung findet im Spiegelsaal des Kurhaus Baden-Baden statt.
Es wird eine Abendkasse geben.
Ein Büchertisch der Buchhandlung Strass wird für Sie Lektüren bereit halten.

Unser Partner: Baden-Baden Events

Foto: Chris Korner

fällt aus // Michael Woll: Zackern an der Tradition. Celans Hölderlinlektüren

Hölderlin begleitet Paul Celan bis zu seinem letzten Band Lichtzwang, aus dem er 1970 zu
Hölderlins 200. Geburtstag liest. Wenige Wochen später nimmt er sich in Paris das Leben, auf dem
Schreibtisch findet man eine aufgeschlagene Hölderlin-Biographie.
Die Nähe zwischen beiden ist alles andere als selbstverständlich. Celan, dessen Eltern von den
Nationalsozialisten ermordet wurden, muss seinen Hölderlin gegen eine Rezeption gewinnen, zu der die Gründung der Hölderlin-Gesellschaft 1943 unter Schirmherrschaft von Joseph Goebbels gehört.
Erst in Auseinandersetzung mit dieser Vereinnahmung kann er die Freiheit gewinnen, poetisch
Stellung zu Hölderlin zu beziehen. Wo ein Zeitgenosse spottete, »Hölderlin, wie immer halb
verrückt, zackert auch am Pindar«, wendet Celan das ›zum Acker gehen‹ als Gemeinsamkeit der
Dichter ins Positive: »und zackere an / der Königszäsur / wie Jener / am Pindar«. Die Lektüre von
Gedichten wie Andenken und Ich trink Wein zeigt Celans Umgang mit Hölderlin als Teil dieser
mühevollen Spracharbeit.


Dr. Michael Woll, geb. 1985, Studium der Germanistik und Mathematik, z.Zt. Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der École Normale Supérieure, Paris.
Zuletzt erschienen: Hofmannsthals »Der Schwierige« und seine Interpreten (2019).

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Foto: Chris Korner

„Alle haben vergessen, dass ich jüdisch bin. Ich nicht“. Andreas Isenschmid eröffnet uns einen neuen Zugang zum Werk von Marcel Proust.

15. November 2022 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

Veranstaltung in Kooperation mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft

70 Jahre PHL: 1952 – 2022

Was soll an Marcel Proust jüdisch sein? War er nicht katholisch getauft und hat seine
Kindheitssommer im katholischen Illiers verbracht, das er in seinem Roman zu Combray geadelt
hat? Hat er nicht die christliche Kunst über alles geliebt und seinen Roman mit einer Kathedrale
verglichen? Stimmt. Und doch ist in der Tiefe alles anders. Den Hauptteil der warmen Monate
verbrachte Proust in Auteuil im Kreis der Verwandten seiner jüdischen Mutter. Der Antisemitismus
in der Dreyfus-Affäre warf ihn, ob er es wollte oder nicht, auf seine jüdische Herkunft zurück. Und
in seinem Roman gehören zu den wenigen Personen, die in allen Bänden auftreten, die jüdischen
Helden Swann und Bloch, mit denen er sich, wenn man nur genau liest, gerade im Jüdischen auf
abenteuerliche Weise identifiziert. Dieses halb verborgene und doch ganz bestimmende Jüdische ist das Thema von Isenschmid Buch „Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische“.

Andreas Isenschmid ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Literaturkritiker. Nach Stationen bei Radio, Fernsehen und Zeitungen (Weltwoche, Tages-Anzeiger, NZZ) ist er heute Mitarbeiter der ZEIT und von 3sat. Zuletzt erschien Marcel Proust (Deutscher Kunstverlag, 2017). Der Elefant im Raum (Hanser Verlag 2022).

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Foto: Paulina Winkler

Tobias Roth über Gaspard Kœnigs Buch: Mit Montaigne auf Reisen

27. September 2022 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

Schon zum zweiten Mal betätigt sich der Lyriker Tobias Roth als kongenialer Übersetzer des französischen Starphilosophen Gaspard Kœnig und begibt sich mit ihm auf eine unglaubliche Reise. Kœnig wiederholt die Tour de Force des Philosophen und Essayisten Montaigne. Der reiste 1580 von seinem Landsitz im Südwesten Frankreichs bis nach Rom und benötigte dafür eineinhalb Jahre. Kœnig folgt dabei nicht nur der Reiseroute seines philosophischen Vorgängers. Wie Montaigne reist auch er dabei zu Pferd. Das klingt zunächst wie eine ehrgeizige Form des Eskapismus, nach Hape Kerkeling und dem Wunsch, „dann mal weg“ sein zu wollen. „Mit Montaigne auf Reisen“ liegt jedoch ein anspruchsvolles philosophisches Programm zugrunde: die Wiedereinübung des Individualismus. Ganz auf sich selbst gestellt versucht Kœnig, im Zufall der Begegnungen das eigene Leben und das selbst bestimmte Schicksal wiederzuentdecken. Ein Gegenprogramm zur Digitalisierung der Massen, deren Gefahren der Philosoph zuvor in seinem Bestseller „Das Ende des Individualismus“ beschrieben hatte.

Dr. Tobias Roth, Jahrgang 1985, ist Lyriker, Übersetzer und Essayist und wurde für seine vielfältigen Arbeiten bereits zweimal mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet. Neben seinen eigenen Anthologien stehen Übersetzungen unter anderem von Voltaire, Erasmus von Rotterdam und Stephen Greenblatt. Er ist Gründungsgesellschafter des Verlages Das Kulturelle Gedächtnis, der bereits zweimal mit dem Deutschen Verlagspreis sowie mit dem Berliner Verlagspreis ausgezeichnet wurde. Der von ihm bei Galiani herausgegebene Foliant Welt der Renaissance von 2020 stand auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Wir freuen uns auf Ihr Kommen!

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Foto: Axel Gundermann/YEARROUNDMUNICH

Jochen Schimmang: Laborschläfer

3. Mai 2022 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

Schimmangs Hauptfigur, Rainer Roloff, ein studierter Soziologe mit „gebrochener Erwerbsbiografie“, führt als Privatgelehrter ein zurückgezogenes Leben. Als Proband einer Langzeitstudie zum Einfluss des Schlafs auf das Gedächtnis, bessert er seine schmale Rente auf. Dank seines Elefantengedächtnisses und seiner ausgeprägten Sensibilität für den Zusammenhang zwischen kollektiver und persönlicher Geschichte imaginiert er in seinen Traum-Protokollen eine „absurd-spielerische Historiografie der Bundesrepublik“ (H. Böttiger), die wir heute kennenlernen.

„Es geht mir hier … um das, was überhaupt erst die Literatur zum Atmen bringt und ein Buch lebendig werden lässt: das richtige Lesen. Wir sind uns einig, dass ein Buch, das nicht gerade irgendwo auf der Welt von einem richtigen Leser gelesen wird, mausetot ist. Einig sind wir uns vermutlich auch, dass das richtige Lesen eine der denkbar asozialsten Tätigkeiten überhaupt ist, denn wenn wir lesen, können wir keine Gesellschaft gebrauchen, zumindest keine menschliche, und ob unser Lesen jemals der Gesellschaft zugute kommt, steht dahin“. So Jochen Schimmang.

Schimmang, geboren 1948, lebt heute als freier Schriftsteller und Übersetzer in Oldenburg. Seine Bücher, um nur drei zu nennen „Der schöne Vogel Phönix“, „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“, „Adorno wohnt hier nicht mehr“, sind zum festen Bestandteil der deutschen Nachkriegsliteratur geworden. 2021 erhielt er den „Italo-Svevo-Preis“ für sein Lebenswerk.

Foto: Karin Eickenberg

Flaubert übersetzen – Ein Abend mit Elisabeth Edl

22. März 2022 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

Traduire, c’est trahir, dass dem nicht so ist, beweist uns Elisabeth Edl mit ihrer von den Medien geradezu umjubelten Übertragung von Gustave Flauberts Meisterwerk „L’Éducation sentimentale“.

Bisher übersetzt mit „Erziehung des Herzens“ oder „Lehrjahre des Gefühls“, hat Edl sich für „Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend“ entschieden und uns beim Wiederlesen einen neuen Zugang zu diesem einzigartigen Roman geschenkt.

Stellvertretend für die vielen Lobeshymnen möge die Wertung von Andreas Isenschmid, einem profunden Literaturkritiker, Ihnen zeigen, welch literarisches Ereignis Sie erwartet:

Die ‚Lehrjahre‘ gehören zu den wenigen Romanen, die wahrhaft die Totalität einer ganzen Epoche darstellen… Das ist die gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es seit Schönes ‚Faust‘ und Birus‘ ‚Divan‘ hierzulande zu kaufen gibt. Das 70-seitige Nachwort ist eine brillante Monografie für sich. Die 150 Seiten umfassenden Anmerkungen mit traumhaft gut gemachten Hinweisen zu Text und Textgeschichte sind von hoher Qualität … Erstmals liegt eine Übersetzung vor, die dem Präzisions- und Rhythmus-Fanatiker Flaubert vollauf gerecht wird.“ (Die Zeit, 08.10.20.)

Elisabeth Edl lehrte von 1983 bis 1995 deutsche Sprache und Literatur an der Universität und der École supérieure de commerce in Poitiers. Seit 1995 arbeitet sie als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Für ihre Übersetzungen und Editionen französischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. 2009 wurde sie zum Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gewählt und zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ernannt.

Eintritt 6 Euro an der Abendkasse. Eine vorherige Reservierung ist nicht nötig.

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Foto: D. P. Gruffot

Wilm Hüffer: „Der Philosoph“ – Ein Roman über Selbsterkenntnis und Verblendung | 26.10.2021

26. Oktober 2021 • 20.15 Uhr • Spiegelsaal • Kurhaus Baden-Baden

In uns allen schlummert der Wunsch nach Selbsterkenntnis. Dieser Roman handelt von Menschen, die ihn sich zu erfüllen versuchen. Und sich dabei erstaunlichen Einsichten nähern, doch ebenso dramatisch an ihren Ansprüchen scheitern.

Kein Wunder, wenn man sich auf den Spuren Hegels befindet. So wie Felix, der temporäre Praktikant und Bettgefährte einer Starreporterin. Als seine anrüchige Freundin das Privatleben des berühmten Philosophen Hinrich Giers untersucht, glaubt er sich endlich Respekt bei ihr verschaffen zu können. Will den Philosophen, der im mondänen Kurbad Binsenburg Zuflucht gesucht hat, für die Öffentlichkeit zurückgewinnen – und mit ihm im Rampenlicht stehen, wenn der Philosoph seine bahnbrechende Theorie der Selbsterkenntnis präsentiert.

Eine ironische Posse mit einem unglaubwürdigen Erzähler – und der eher unbequemen Hegelschen Einsicht in die Widersprüchlichkeit des eigenen Denkens: Auf besondere Weise blind zu sein, je näher man sich echter Selbsterkenntnis glaubt.

Wilm Hüffer, geboren 1972 in Münster, hat in Leipzig und Köln Philosophie und Geschichte studiert. Er ist Radiomoderator beim Südwestrundfunk in Baden-Baden.

Eintritt 6 Euro an der Abendkasse. Eine vorherige Reservierung ist nicht nötig.

Für die Veranstaltung im Kurhaus gilt eine strikte 2G-Regelung, bitte bringen Sie die entsprechenden Dokumente mit.

Foto: Oliver Reuter

Wegen der Coronakrise abgesagt: Johann Michael Möller: Der Osten – eine politische Himmelsrichtung | 21.04.2020

21. April 2020 20.15 Uhr Spiegelsaal Kurhaus Baden-Baden

Nicht das Ende der Geschichte sah Pierre Bourdieu im Epochenjahr 1989 gekommen, sondern ihr Wiedererwachen. Die Welt des Ostens kehrte mit Macht ins Bewusstsein der Gegenwart zurück. Die sich vom Sowjetkommunismus befreienden Völker Mitteleuropas gründeten ihre Hoffnungen auf eine sich nach Osten hin erweiternde europäische Union. Was ist von diesen Erwartungen geblieben? Warum sind wir uns so fremd geworden?

Der Westen Europas steht dem östlichen Teil des Kontinents heute ratlos gegenüber. Er versteht ihn nicht und will ihn nicht verstehen. Die postnationale Welt trifft auf selbstbewusste Nationen, die sich Europa zugehörig fühlen, aber den Nachahmungsimperativ des Westens, so der Politikwissenschaftler Ivan Krastev, als kulturelle Bedrohung empfinden.

Johann Michael Möller war jahrzehntelang im östlichen Teil Deutschlands und Europas unterwegs und hat darüber ein Buch geschrieben, das gängigen Wahrnehmungen widerspricht. „Mal dicht beschreibend, mal historisch reflektierend reist er zwischen Baltikum und Balkan und wundert sich, so der Historiker Karl Schlögel, über „die bis heute anhaltende Selbstbeschränkung auf einen bloß westlichen Erfahrungsraum.“

Johann Michael Möller, geb. 1955, war zuletzt Hörfunkdirektor des MDR. Er ist Herausgeber der deutsch-russischen Zeitung Petersburger Dialog. Sein Buch Der Osten – eine politische Himmelsrichtung erschien 2019 im Verlag zu Klampen.

Foto: © Marco Prosch, Leipzig

Artur Becker: Der „Drang nach Osten“ und „Kosmopolen“ | 21.01.2020

21. Januar 2020 20.15 Uhr Spiegelsaal Kurhaus Baden-Baden

Lesung und Gespräch: Artur Becker und Gerwig Epkes

Eine anderes Bild von Europa wünscht sich der Schriftsteller Artur Becker. Bei der Lesung aus seinem neu erschienenen Roman „Drang nach Osten“ wandte sich Becker einerseits gegen das Europa-Bild, die EU für „eine Milchkuh aus Brüssel“ zu halten, sich einzig an gemeinsamen wirtschaftlichen Perspektiven zu orientieren. Aber auch die Trauer über den Verlust geistiger Identitäten wie in „Das Land Urlu“ von Czeslaw Milosz führe letztlich nicht weiter.

Vor 40 Gästen der PHL plädierte Artur Becker für eine neue Identität des Nationalen im größeren Ganzen der europäischen Staaten. Als „Kosmopolen“ bezeichnete er sich deshalb – und übernahm ironisch die Bereitschaft, als „Präsident der Kosmopolen“ zu fungieren. Solche neuen Formen der Gemeinschaft müssten einen Platz bieten auch für „verwirrte und unentschlossene Geister“.

Becker kritisierte die Bemerkung von Marcel Reich-Ranicki, polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller würden letztlich nur Lyrik zustande bringen. Das Werk von Olga Tokarczuk sei ein Beweis des Gegenteils. Und auch mit der Lesung aus seinem eigenen Roman „Drang nach Osten“ strafte Becker den großen MMR Lügen, gab mit den Szenen aus dem Polen der Nachkriegszeit Zeugnis für eine Geschichte, die lebendig bleibt, auch wenn sie abgeschlossen zu sein scheint.

Fulminant und vielschichtig erzählt Artur Beckers Roman unter anderem von der Erfindung neuer Identitäten im Nachkriegspolen, in dem Polen keine Handlanger der Deutschen gewesen sein durften und Deutsche selbst ihre Identität verleugnen musssten. Ein Roman, wie er zu diesem Thema noch nie geschrieben wurde.

Artur Becker, 1968 geboren als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland. Studium der Kulturgeschichte Osteuropas und der Deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft. Er schreibt Gedichte, Romane, Novellen, Erzählungen, Essays, Aufsätze und Rezensionen und ist auch als Übersetzer tätig.

2009 wurde er mit dem renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet.

Zuletzt erschienen sein Roman Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken (2008), Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang (2013) und Drang nach Osten (2019), geschrieben in deutscher Sprache, seiner, wie er es nennt, „Literatursprache“, seiner „Dienstsprache“.

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 | 12.11.2019

Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin: Die vier großen Philosophen lösen in den Jahren der Weimarer Republik einen Gedankenschub aus, der die Philosophie aus Sicht von Wolfram Eilenberger bis heute prägt und ihre bedeutenden Denkrichtungen hervorgebracht hat: den Existenzialismus, die Hermeneutik, die Sprachphilosophie und die Dekonstruktion.

Als Zauberer sieht Eilenberger die vier philosophischen Klassiker, weil sie ihr eigenes Denken in radikalen Lebensentwürfen und sei es selbst auf teils fatale Weise glaubwürdig verkörpert hätten. „Denkpersonen“, wie sie der Gegenwart leider fehlten.

„Wenn das Buch Zeit der Zauberer eines zeigt, dann dass Leben und Philosophieren, die Gestaltung des eigenen Lebens und die Durchdringung dieses Lebens mit Gedanken nicht getrennte Bereiche sind und das ist etwas, was wir in der heutigen akademischen Philosophie kaum noch sehen“, so Eilenberger.

Dr. Wolfram Eilenberger, geb. 1972, Philosoph und Publizist, lehrte an der University of Toronto (Kanada), der Indiana University (USA) und an der Berliner Universität der Künste. Ab September 2019 auch an der ETH Zürich. Er ist Gründungschefredakteur des „Philosophie Magazins“, moderiert im Schweizer Fernsehen die „Sternstunden der Philosophie“ und ist Programmleiter der phil. cologne sowie des Berliner Verlags Nicolai Publishing & Intelligence. Sein Buch Zeit der Zauberer (Klett Verlag 2018) wird in mehr als 20 Sprachen übersetzt.